Warum genug nie genug ist

Die Grenzen der Steigerungslogik moderner Gesellschaften

von Dr. Torsten Breden

Beginnen wir bei Adam und Eva. Was hat Adam und Eva im Paradies eigentlich gefehlt und zum verbotenen Apfel greifen lassen? Nichts! 

Und dennoch war ihnen selbst angesichts des idyllischen Überflusses im Garten Eden genug nicht genug. Sie wollten mehr. Mehr Wissen, mehr Macht und nicht zuletzt Unsterblichkeit. Wohin dieses allzumenschliche Streben führte, ist bekannt - warum das stets gleiche Muster fast einer tragischen Notwendigkeit folgt, hingegen nicht. Es scheint als sei der Mensch nie zufrieden; als könne er nie genug haben. Als seien Raffsucht und Eigennutz seine biologisch verankerten Charakterzüge. Als breche immer wieder das Urbild der Versuchung auf - die Gier: das 'Niemals- genug-bekommen-können'. 

 

Die Gier ist genauso verwerflich wie menschlich

Sie ist eine Art Sucht - eine Maßlosigkeit in der Maßlosigkeit. Doch spornt sie nicht auch an, über sich hinauszuwachsen? In „Der Wohlstand der Nationen“ beschreibt Adam Smith 1776, wie auf einem freien Markt der Egoismus des Einzelnen letztlich in den Nutzen des Allgemeinwohls gestellt werden könne. Denn wie von einer „unsichtbaren Hand“ geleitet, diene der Eigennutz jedes Einzelnen der Mehrung des Wohlergehens aller. „Adam Smiths unsichtbare Hand ist unsichtbar, weil es sie nicht gibt", polemisierte später der frühere Weltbank-Chefökonom und Nobelpreisträger Joseph Stiglitz. Zumindest hat diese Hand oft genug nicht für Ordnung und Gemeinwohl, sondern für Exzesse, Spekulationsblasen und Krisen gesorgt. 

Gordon Gekko, die Hauptfigur aus Oliver Stones berühmten Film „Wall Street“ prägte mit dem Ausspruch „Gier ist gut. Gier ist richtig. Gier funktioniert.“, die Haltung einer ganzen Ära. Der Bruder dieser funktionalen Gier ist ein unerschütterlicher Glaube an quantitatives Wachstum, der seit geraumer Zeit alle ökonomischen und politischen Entscheidungen beeinflusst und über alle politischen Lager hinweg zum tonangebenden Mantra geworden ist. Dabei dient die Logik des permanenten, quantitativen Wachstums nicht zuletzt als Beruhigungspille für die Wohlhabenden. Denn für Individuen und Nationen gilt gleichermaßen, dass in einer Welt, in der es immer mehr zu verteilen gibt, niemand etwas abgeben muss. Die Vorstellung ist bestechend einfach: der insgesamt wachsende Wohlstand wird aus dem permanenten Wachstum der Wirtschaftsleistung generiert und nicht aus Verzicht und Umverteilung. Dies ist die einfachste und bequemste Antwort auf die soziale Frage und den Verteilungskonflikt.

»Gier ist gut. Gier ist richtig. Gier funktioniert.«

Auch aus diesem Grund ist unser Wirtschaftssystem konsequent auf quantitatives Wachstum ausgerichtet. Und bislang hat das sehr gut funktioniert - zumindest für einen kleinen Teil der Menschheit. Die Menschen der westlichen Welt glaubten an das Mehr des nächsten Tages, nächsten Jahres, nächsten Jahrzehnts. Unternehmen vertrauten auf den Erfolg ihrer Produkte und Leistungen und steigerten deren Absatz.

Doch das Wirtschaftswachstum in den Industriestaaten, das in früheren Jahrzehnten stetig wuchs, ist in den vergangenen Jahren stagniert oder sogar zurückgegangen. Und es spricht einiges dafür, dass dieser Trend von Dauer sein könnte. Das, was als Krise des Kapitalismus bezeichnet wird, ist demnach vielmehr eine Wachstumskrise des Kapitalismus. Das einzig wirkliche Problem im globalen Warentransfer scheint ein Mangel an quantitativem Wachstum auf Nachfrageseite zu sein. In anderen Worten: die Märkte können nicht alles verbrauchen, was sie zuvor produziert haben. Großartig könnte man angesichts dieser Entwicklung ausrufen - wenn die Wirtschaft Jahr für Jahr nicht mehr so viel produzieren will wie früher - dann arbeiten wir eben weniger und haben mehr Zeit für uns, für unsere Familien und Freunde. 

Damit stoßen wir allerdings unweigerlich auf eine grundlegende Frage: Was bedeutet es für unser Wirtschaftssystem, wenn es nicht mehr auf quantitatives Wachstum setzen kann? Unsere Lösung im Umgang mit diesem Problem bestand bisher darin, immer effizienter zu produzieren und zugleich eine künstliche Nachfrage zu erzeugen - und dies in der Regel schuldenfinanziert. Die positive wirtschaftliche Entwicklung nach der großen Finanzkrise steht ebenfalls auf diesem Fundament. Der Glaube an das Mehr in der Zukunft hat das System stabilisiert und der Verteilungskonflikt wird über Schulden in die Zukunft verschoben. Nicht zuletzt war der Glaube an eine bessere Zukunft bisher tröstlich. 

Doch was passiert, wenn das Mehr nicht mehr eintritt? Genau dieses Problem wird uns früher oder später einholen. Und hier begegnet uns ein neuer Imperativ der quantitativen Steigerungslogik. Denn die Motivation quantitativen Wachstums besteht nicht mehr darin, dass sich Unternehmen und Gesellschaften auf ein erstrebenswertes Ziel hin entwickeln, sondern darin, den Abstieg und Untergang zu verhindern. Ein immer größerer Ressourceneinsatz wird notwendig, um zu wachsen damit aber letztlich nur den Status Quo zu erhalten. Man kann dies als dynamische Stabilisierung bezeichnen – als einen Prozess, der alle modernen Gesellschaften auszeichnet. D.h. der Erhalt moderner Gesellschaften ist auf permanentes Wachstum, Beschleunigung und Innovationsverdichtung notwendig angewiesen.

»Ohne Wirtschaftswachstum drohen immer mehr Staaten unter ihrer Schuldenlast aus der Vergangenheit zusammenzubrechen.«

Um einen völligen Kollaps des Systems zu verhindern, halten die Notenbanken weltweit seit Jahren die Zinsen auf historische Tiefs und die Staaten überschulden sich weiter. Doch da die Schulden mittlerweile schneller steigen als die Wirtschaftsleistung, wächst auch die Angst vor der nächsten weltweiten Rezession. Irgendwie haben alle ein schlechtes Gefühl dabei – das geht eigentlich schon wieder viel zu lange gut. Aber die nächste Rezession wird heftig. Denn nach drei globalen Finanz- und Wirtschaftskrisen sind die Handlungsspielräume, damit umzugehen, weitgehend ausgeschöpft. 

 

Zudem zeichnet sich immer deutlicher ab, dass wir unsere Zukunft aufs Spiel setzen, wenn wir weiter einer bedingungslosen quantitativen Wachstumslogik folgen. Denn diese hat einen hohen sozialen und ökologischen Preis: Zunehmend werden lebensnotwendige Ressourcen zerstört oder radikal erschöpft. Schon jetzt sind Millionen Menschen weltweit auf der Flucht, in Zukunft könnten es noch deutlich mehr werden. Kriegerische Auseinandersetzungen, Umweltzerstörung und Klimawandel drohen ganze Regionen unbewohnbar zu machen. Und damit wird für immer mehr Menschen deutlich, dass kein politisches oder ökonomisches System dauerhaft überlebensfähig ist, das systematisch seine sozialen sowie ökologischen und damit letztlich auch seine ökonomischen Bedingungen zerstört.

 

Ein Blick in die Zukunft macht deutlich, dass wir in der Falle sitzen

Das Argument erlahmender Wachstumskräfte, wird nicht zuletzt mit einem Hinweis auf die Digitalisierung als nächster Phase der industriellen Entwicklung zu entkräften versucht. Doch wenn wir die digitale Welle der Automation genauer analysieren, führt sie gerade nicht zu einer wachsenden Wirtschaft. Das Gegenteil ist der Fall. Denn von der Konkurrenz getrieben, müssen Unternehmen die Lohnstückkosten senken. Das probateste Mittel dazu ist es, Maschinen einzusetzen, mit denen die menschliche Arbeit produktiver wird. Die Informationstechnologie ermöglicht in diesem Kontext zunächst eine höhere Kapazitätsauslastung von Maschinen und eine nachhaltigere Verwendung von Material und Energie. Dies wiederum führt zu sinkenden Kosten von Produkten und Maschinen. Weiterhin von der Konkurrenz und einer fallenden Profitrate getrieben, werden Unternehmen technische Entwicklung befördern, die notwendig darin münden intelligente Maschinen einzusetzen, die sich selbst warten, reproduzieren und weiterentwickeln. Nun können Gegenstände und Gebrauchswerte mit minimalem Aufwand an Energie und Rohstoffen hergestellt werden, ohne dass dabei Arbeit anfällt. Wenn aber die Arbeit, die investiert werden muss, um etwas zu produzieren, gegen Null geht, entsteht auch kein Mehrwert. Bereits heute ist zu beobachten, wie der Tauschwert einiger Produkte in nur wenigen Jahren exponentiell gefallen ist. Die beschriebene Wachstumslogik lässt sich damit jedenfalls nicht mehr bedienen.

 

Die Geschichte lehrt, Vertreibungen aus dem Paradies, sind keine erbaulichen Ereignisse

Mit dem Siegeszug der Digitalisierung und künstlichen Intelligenz werden wir Zeugen einer radikalen Umwälzung der Grundlagen unseres Wirtschaftssystems. Technologisch sind wir dabei auf dem Weg zu tendenziell kostenlosen Gütern, nichtmessbarer Arbeit, exponentiellen Produktivitätszuwächsen und der kompletten Automatisierung physikalischer Prozesse in einer bisher nicht vorstellbaren Form. Was dies gesellschaftlich bedeutet ist noch nicht absehbar – sicher ist nur, dass die aufkommenden technologischen Produktionsverhältnisse unvereinbar sind mit der dynamischen Stabilisierung moderner Gesellschaften. Am Ende geht es um ein radikales Hinterfragen unserer bisherigen gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Grundannahmen. Unser Denken und die Art und Weise wie wir damit unsere Wirklichkeit konstruieren, werden darüber entscheiden, wie unsere Zukunft aussieht. Doch gerade in Zeiten der Unsicherheit wird vermehrt auf die Erfolgsrezepte der Vergangenheit zurückgegriffen - auch wenn sie immer häufiger zu massiven Fehleinschätzungen, falschen Entscheidungen und institutionellem Versagen führen wie dies ist in den letzten Jahren bereits vermehrt spürbar wurde.

 

Wie es scheint wird das größtmögliche Zukunftspotential jedenfalls nicht mit den mentalen Modellen der Vergangenheit erschlossen. Das Bekannte und Vertraute zu verlassen, mag vielen wie eine Vertreibung aus dem Paradies vorkommen. Aber wie schon im Falle von Adam und Eva gibt es nach dem Baum der Erkenntnis kein zurück mehr. So viel ist sicher. Und das ist doch schon erbaulich, in Zeiten radikalen Wandels.

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